Montag, 12. Oktober 2009

Der Vorfall

Von bambulie 20.08.2009, 21.07 Uhr



Wie immer um diese Jahreszeit herrschte reges Treiben in der vornehmen Münchner Maximilianstraße zwischen Max-Joseph-Platz und dem Bayerischen Landtag. Diese Einkaufsmeile, die von Edeljuwelieren, Luxusboutiquen, Kunstgalerien und exklusiven Antiquitätenläden nur so strotzte, vibrierte wieder einmal unter dem Ansturm der vielen Russen, Japaner, Iraner und Amerikaner.

Es war Mitte August und die Eisverkäufer ließen ihre Kühlaggregate auf Hochtouren laufen. Auch der Straßenverkehr auf der Maximilianstraße gebärdete sich teilweise recht bockig. Nörgelndes Hupen, hektische Ausweichmanöver und eine unentwegt klingelnde Trambahn bestimmten das flirrende Straßenbild. Schneidige Fahrradkuriere mit gestählten Körpern schwirrten wie aggressive Mücken durch das alltägliche Verkehrsgewühl.

Im nahen Völkerkunde Museum gegenüber der Regierung von Oberbayern wandelten wissbegierige junge und alte Menschen staunend durch die hohen Räume. Ehrfürchtig und neugierig zugleich blickten sie auf die beeindruckenden Zeugnisse vergangener sowie gegenwärtiger Kulturen.

Auf der großen Freitreppe, die hinaufführte zum monumentalen Eingang der Bayerischen Staatsoper standen die Menschen dicht gedrängt in eleganten Abendgarderoben und tauschten in gemeinsamer Erwartung eines schönen Theaterabends, amüsiert Höflichkeiten aus.

Vor dem Eingang zur öffentlichen Schatzkammer der Münchner Residenz, sausten wie immer Jugendliche in äußerst waghalsiger Art und Weise auf ihren Skateboards hin und her, obwohl dies natürlich verboten war. Doch gerade das war natürlich der Reiz den die jungen Kerle sichtlich genossen, denn in immer kürzer werdenden Abständen stürzte ein rotgesichtiger Aufsichtsbeamter aus dem Portal heraus und schimpfte was das Zeug hielt. Dabei fuchtelte er jedes Mal wild gestikulierend mit beiden Armen umher.

Allerdings zeigte diese Verscheuchungsaktion so gut wie keine Wirkung bei den erhitzten Jungs. Im Gegenteil. Sie steigerten sogar noch ihre Aktivitäten. Als der rotgesichtige Aufsichtsbeamte aber schließlich damit drohte die Polizei zu rufen, zogen es die Jugendlichen doch lieber vor das Feld zu räumen. Sie verlagerten ihre tollkühnen Aktionen einfach in die Residenzstraße, zum Leidwesen vieler Passanten. Das laute Aufschlagen der Rollbretter auf dem warmen Asphalt hallte Unruhe verbreitend über den gesamten Max-Josef-Platz, und wirkte zeitweilig wie ein abstrakter Hörgenuss von Stockhausen.

Am Taxi Standplatz vor der alten Hauptpost erzählte eine offensichtlich leicht beschwipste Dame einem jungen Taxifahrer ihr ganzes Leben und zwar in allen Einzelheiten.
Auf dem verkehrsberuhigten Platz, direkt vor dem prächtigen Orlando di Lasso Haus verzehrten zufriedene Touristen die Köstlichkeiten eines weltbekannten Münchner Sternekochs. In unmittelbarer Nähe zum Eingang des Hofbräuhauses verharrte ein bunt gekleideter Pantomime in weißen Stulpenstiefeln, im professionellen - Sich-nicht-Bewegen.

Alles lief also in den üblichen Bahnen, bis auf eine äußerst befremdlich wirkende Begebenheit, die sich zur gleichen Zeit in der Münchner Frauenkirche ereignete. Dort kniete eine völlig in Schwarz gekleidete Frau auf dem Steinboden, und leckte begierig an dem schwarzen Fußabdruck, der sich im hinteren Eingansbereich des Kirchenschiffes befand. Der Legende nach hatte im Mittelalter kein geringerer als der Teufel selbst den erwürdigen Dom betreten, und bei dieser Gelegenheit seinen Fußabdruck auf dem steinernen Boden hinterlassen. Zu jener Zeit hatte man eben noch diese Religionen mit all ihren absonderlichen und teilweise widerlichen Reliquien. Die groteske Aktion, der am Boden knienden, gleichzeitig innbrünstig betenden Frau, verursachte allgemein großes Aufsehen. Ein Raunen ging durch die Frauenkirche. Ein Eklat!

Die anwesenden Gläubigen und die zahlreichen Touristen wichen entsetzt zurück, bis auf einige Japaner die sofort ihre digitalen Kameras zückten und grelle Lichtkaskaden abfeuerten.

Doch schließlich eilte der Wächter des Doms, ein hoch gewachsener stattlicher Mann, mit einem langen hageren und asymmetrischen Gesicht herbei. Bekleidet war er mit Dienstmütze sowie einem grauen Mantel.
Erstaunt betrachtete er die bigotte Szenerie:
„Ja, was soll denn das nun werden? Sie sind wohl verrückt geworden… so geht es aber nun wirklich nicht…!"

Die seltsame Frau schien ihn jedoch gar nicht wahrzunehmen. Wie eine Besessene leckte sie weiter voller Innbrunst am Fußabdruck des Satans, den dieser auf dem geweihten Boden hinterlassen hatte.

Im nächsten Moment jedoch packte der Wächter die Frau in einem Anfall von heiliger Wut mit eisernem Griff am Arm und zog und zerrte diese offensichtlich verwirrte Person hinaus aus der geheiligten Stätte. Der äußerst ungewöhnliche Vorfall hatte jedoch für ihn keine weitere Bedeutung. Dazu hatte er einfach schon zu viele Dienstjahre auf dem Buckel. Ein Benehmen hatten die Leute manchmal: Unglaublich!

Nach einer Weile aber ging erneut ein lautes Raunen durch die Reihen der zahlreichen Gläubigen. Die Frau, welche der Wächter gerade eben auf so unsanfte Weise hinausbefördert hatte, war doch tatsächlich wieder zurückgekommen. Alle Blicke, einschließlich der des hageren Wächters richteten sich erneut auf sie. Die Japaner lösten abermals eine Welle aus bläulichem Blitzlichtgewitter aus.

„Ja, sind sie den schon wieder hier!" rief nun der Wächter des Doms mit mahnender Stimme. Die Frau würdigte ihn jedoch keines Blickes, sondern ging zielstrebig weiter in Richtung des großen Weihwasserbeckens. Dort angekommen, holte sie einen großen, gusseisernen Schöpflöffel unter ihrem schwarzen Mantel hervor und tauchte ihn in das geweihte Wasser. Gierig trank sie anschließend mit einem einzigen Zug den gesamten Inhalt des Löffels leer.

Links und rechts lief ihr nun das geweihte Wasser aus den Mundwinkeln, während ihre blutunterlaufenen Augen aus dem Schädel hervorquollen, wie bei einem zu Tode erschrockenen Tintenfisch. Das Weihwasser schien ihr überhaupt nicht zu bekommen. Es zischte und dampfte plötzlich aus ihrem weit geöffneten Mund und beißender Schwefelgeruch verbreitete sich schlagartig im gesamten Kirchenschiff.

Mittlerweile hatte der Wächter des Doms die Frau aber erreicht, und packte sie entschlossen erneut am Arm, um ihr den riesigen Schöpflöffel zu entreißen. Doch die Frau riss sich mit ungeahnter Kraft sowie einem gellenden Schrei los, woraufhin der Wächter entsetzt zurückwich.

Das Gesicht dieser Wahnsinnigen verzerrte sich urplötzlich zu einer scheußlichen Fratze. Ihr Mund verformte sich zu einem runden orangeroten Loch. Als nächstes stieß sie einen gewaltigen rot glühenden Feuerstrahl aus, der dem eines Flammenwerfers nicht unähnlich war. Der infernalische Feuerstrahl traf den Wächter des Doms unvermittelt voll im Gesicht.

Seine Dienstmütze und sein dunkler Mantel fingen daraufhin sofort Feuer und brannten lichterloh. Schreiend, mit weit ausgebreiteten Armen lief er nun lodernd wie ein brennendes Kreuz in Richtung des Hochaltars zurück.
Der boshafte Dämon, welcher offensichtlich Besitz von dieser Frau ergriffen hatte, spie weiterhin mit Feuer um sich, gerade so wie ein altertümlicher Feuerkünstler. Die Japaner schleuderten erneut Kaskaden aus zuckendem Blitzlicht auf die Besessene. Die Menge applaudierte wie in einem Zirkus.

Doch plötzlich kam der Wächter des Doms zurück. Diesmal aber in einer herrlich strahlenden Rüstung aus purem Gold, die dem Erzengel Gabriel alle Ehre gemacht hätte. Seine rechte Hand umklammerte ein gewaltiges Flammenschwert, dessen Griff mit prächtigen Einlegarbeiten aus funkelnden Edelsteinen verziert war.

Von der Empore herab erschallten Posaunen und Fanfaren, der rituellen Bedeutung dieses einzigartigen Augenblickes angemessen. Im nächsten Moment stürzte sich der Wächter im goldenen Harnisch und mit blitzendem Schwert auf die elende Frevlerin, die es doch tatsächlich gewagt hatte, diese heilige Stätte erneut zu entweihen. Mit einem einzigen wuchtigen Hieb teilte er die Frau in zwei gleichmäßige Hälften, aus denen jeweils schwarzes Pech floss. Der mephistophelische Inhalt ergoss sich zähflüssig auf dem marmornen Boden. Elende Miasmen durchströmten daraufhin den Raum.

Wiederum begannen die Japaner damit, sofort ein bombastisches Blitzlichtgewitter auszulösen. Der Wächter des Doms öffnete nun das mit Juwelen und Smaragden bewehrte Visier seines goldenen Helms, worauf eine Unzahl schneeweißer Rosenblüten, eingehüllt in waberndem Nebel, aus dem Inneren des Prunkhelms flatterten, um anschließend Schmetterlingen gleich, im Blitzlichtgewitter unstet hin und her zu gaukeln.

Im nächsten Moment war der gesamte steinerne Boden der Münchner Frauenkirche mit schneeweißen Rosenblüten übersät. Der bombastische Klang einer gewaltigen Orgelmaschinerie setze ein. Die Japaner applaudierten enthusiastisch.

Urplötzlich öffneten sich wie von Geisterhand die großen hölzernen Flügeltüren des Doms und erneut erklangen Posaunen im Einklang mit schmetternden Fanfaren. Als Nächstes zog eine prächtig herausgeputzte Prozession, angeführt vom Erzbischof von München und Freising in den Dom ein. Der Bischof im prunkvollen Ornat, mit Mitra und Hirtenstab, umgeben von zahlreichen Würdenträgern und Ministranten, winkte huldvoll lächelnd den Gläubigen zu.

Aus einer kleinen geöffneten Luke irgendwo hoch oben im Gewölbe des Kirchenschiff, flog eine kleine Schar weißer Tauben in den sonnigen weißblauen Himmel hinauf, während der tapfere Wächter im Inneren seiner goldenen Rüstung langsam aber stetig, zu Staub zerfiel.

© 2009 bambulie